Dies Domini – Christkönigssonntag, Lesejahr A
Der Glaube ist eine Herausforderung, die mit Verstand bewältigt werden will. Wer die frohe Botschaft nicht bloß nachplappern, sondern verkünden will, der muss überzeugen können. Man kann aber nur dann überzeugen, wenn man selbst von dem überzeugt von dem ist, was man redet und tut. Überzeugung hingegen ist eine Haltung der Erkenntnis, eines Verstehens, das ohne Verstand nicht möglich ist.
Zu einer solchen Haltung gehört eine prinzipielle Offenheit für das Neue, das Kommende, das Streben nach tieferer Erkenntnis, die letztlich nichts anderes ist als ein Fortschreiten des Verstehens. Ein Glaubender, der nicht damit zufrieden ist, katechetische Sätze einfach auswendig zu lernen und phonetisch korrekt zu rezitieren, auch wenn das was der Mund spricht weder das Herz und noch weniger den Kopf erreicht haben, kann nicht anders als sich selbst immer wieder zu relativieren. Die Relativierung nimmt die Relation, also die Beziehung eines zu betrachtenden Gegenstandes zum Betrachter ernst. Mag auch der Gegenstand unveränderlich sein – der Betrachter ist es nicht. Er ist allein schon aufgrund seiner irdischen, raum-zeitlichen Existenz dem Gesetz von Werden und Vergehen unterworfen. Erfahrungen, die er in jungen Jahren noch nicht hatte, verändern seinen Blick. Ängste, die die Jugend noch nicht kennt, können ihn trüben, ein aus Geben und Nehmen gewachsenes Vertrauen in das Leben können ihn weiten. Erkenntnis hat man daher nicht, Erkenntnis wächst. Selbst die Erkenntnis der absoluten Wahrheit ist also relativ, wird sie doch vom Blickwinkel, von der Haltung des Erkennenden, seinen Vorerfahrungen, seinen Ängsten und Hoffnungen bestimmt. Die Wahrheit bleibt, die Methode, der Weg, sie zu finden, ist hingegen relativ.
Es ist also wenig verwunderlich, wenn in der vergangenen Woche zu lesen war, Papst Benedikt XVI habe einen Aufsatz, den er 1972 geschrieben hatte, über vierzig Jahre später mit anderen Augen sieht. Der Vorgang allerdings erregt deshalb großes Aufsehen, weil er sich mit der Frage der Unauflöslichkeit der ehe befasst. Josef Ratzinger wagt 1972 den Versuch,
„mit aller gebotenen Vorsicht einen konkreten Vorschlag zu formulieren, der mir in diesem Rahmen zu liegen scheint. Wo eine erste Ehe seit langem und in einer für beide Seiten irreparablen Weise zerbrochen ist; wo umgekehrt eine hernach eingegangene zweite Ehe sich über einen längeren Zeitraum hin als sittliche Realität bewährt hat und mit dem Geist des Glaubens, besonders auch in der Erziehung der Kinder, erfüllt worden ist (so dass die Zerstörung dieser zweiten Ehe eine sittliche Größe zerstören und moralischen Schaden anrichten würde), da sollte auf einem außergerichtlichen Weg auf das Zeugnis des Pfarrers und von Gemeindegliedern hin die Zulassung der in einer solchen zweiten Ehe Lebenden zur Kommunion gewährt werden“. (Joseph Ratzinger, Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe, in: Ehe und Ehescheidung – Diskussion unter Christen, München 1972)
In der nun – und dieser Hinweis ist sicher wegen seiner theologie-politischen Brisanz wichtig – vor der Bischofssynode überarbeiteten Version des Aufsatzes, die im vierten Band der gesammelten Schriften Josef Ratzingers/Benedikts XVI erschienen ist, ist der Schluss völlig anders. Nun ist, obwohl die vorangehende Argumentation unverändert blieb, nicht mehr von einem unter bestimmten Umständen möglichen Kommunionempfang für wiederverheiratet Geschiedene die Rede. Stattdessen empfiehlt Benedikt XVI jetzt der Ausbau von Ehenichtigkeitsverfahren, das eine psychische Unreife zum Zeitpunkt der Eheschließung feststellen könnte, so dass die vermeintliche erste Ehe von Anfang an ungültig war und eine echte Eheschließung für die neue Beziehung möglich wird.
Das mutet nicht nur etwas kirchenwinkeladvokatisch an. Als amtierender Papst hatte Benedikt XVI davor gewarnt, genau diesen Aspekt, den can 1095 CIC 1983 (Codex Iuris Canonici – Kirchenrecht von 1983) regelt, vorschnell zur Anwendung zu bringen, weil er hierin die Gefahr eines anthropologischen Pessimismus erblickt,
der es im Licht der heutigen kulturellen Situation für nahezu unmöglich hält sich zu verheiraten. (Papst Benedikt, Ansprache an die Mitglieder des Gerichtshofes der römischen Rota anlässlich der Eröffnung des Gerichtsjahres vom 29. Januar 2009)
Benedikt XVI führte seinerzeit aus:
Es ist vor allem nötig, die Fähigkeit positiv wieder neu zu entdecken, die im Prinzip jeder Mensch besitzt, nämlich aufgrund seiner Natur als Mann oder Frau zu heiraten. (…) Abgesehen davon, daß die Situation in den verschiedenen Regionen der Welt nicht gleich ist, darf die wahre Ehekonsensunfähigkeit nicht mit den realen Schwierigkeiten verwechselt werden, in denen sich viele, besonders die jungen Menschen, befinden, die deshalb zur Ansicht gelangen, die Ehe sei normalerweise undenkbar und unpraktizierbar. Ja, die Bekräftigung der angeborenen Fähigkeit des Menschen zur Ehe ist gerade der Ausgangspunkt, um den Eheleuten zu helfen, die natürliche Wirklichkeit der Ehe und die Bedeutung zu entdecken, die sie auf der Ebene des Heils hat. Was schließlich auf dem Spiel steht ist die Wahrheit über die Ehe und über die ihr innewohnende rechtliche Natur, was die unabdingbare Voraussetzung ist, um die geforderte Fähigkeit zur Eheschließung erfassen und beurteilen zu können. (Ebd.)
Der jetzt wiederveröffentlichte Aufsatz über die Unauflöslichkeit der Ehe, der gegenüber der Erstfassung von 1972 zu einem fundamental anderen Schluss kommt, weist also einen doppelten Wandel der Einsichten auf, die sich nicht allein mit dem großen zeitlichen Abstand von über vierzig Jahren erklären lassen. Die vor gerade einmal fünf Jahren ausgesprochene Warnung vor einer vorschnellen Anwendung des Argumentes der psychischen Eheunfähigkeit wird gerade jetzt zum Königsweg erklärt.
Das mag ein Erkenntnisfortschritt sein. Es mag aber auch die Angst vor der Tradition, des Prozesses der Weitergabe der Botschaft sein, die sich nun in eine neue Zeit hinein inkarnieren muss. Ob hier Weisheit oder Wankelmut am Werk ist, mögen in Zukunft die Kirchengeschichtler beurteilen. Jetzt aber scheint es so, als relativiere sich der Kämpfer gegen des Relativismus selbst.
Darin selbst liegt eine Erkenntnis, die der Verteidiger der absoluten Wahrheit so vielleicht nicht gewollt hat. Es ist die Erkenntnis, dass man die Wahrheit nur im Fortschreiten erkennen kann. Erkenntnis hat man nicht, Erkenntnis wächst. Auf einem als falsch erkannten Weg kann man umkehren. Wer aber die Wahrheit sucht, muss fortschreiten. Wer stehen bleibt, dem flieht die Wahrheit, weil er sich selbst für wahr zu halten glaubt.
Wie sehr ein solcher Fortschritt notwendig ist, lehrt nicht ohne Zufall Paulus, dessen Theologie die frühe Zeit der Kirche entscheidend mitgeprägt hat. Seine Theologie ist nicht fertig. Seine wenigen Schriften, die im Neuen Testament enthalten sind – gerade einmal sieben Briefe – legen Zeugnis von einem intensiven Ringen um Erkenntnis und Wahrheit ab. Sie zeigen, dass man mit Verstand zur Überzeugung gelangt. Sie lehren, dass der Zweifel der Bruder des Glaubens und die Infragestellung die Mutter der Wahrheit ist. Die zweite Lesung, die am Hochfest Christkönig im Lesejahr A verkündet wird, zeigt einen Ausschnitt dieses Ringens um Erkenntnis. Im Zusammenhang längerer Ausführungen über die Vernünftigkeit des Glaubens an die Auferstehung, die sich aus dem Glauben an die Auferstehung des Gekreuzigten ergibt, die für Paulus die Basis des christlichen Glaubens schlechthin ist (vgl. 1 Korinther 15,14.17), kommt er auf die Bedeutung der Auferstehung für die Glaubenden zu sprechen. Die Auferstehung Jesu erscheint prototypisch, nicht exklusiv. In ihr wird das Schicksal des Menschen sichtbar, der trotz seiner grundlegenden Todverfallenheit zum Leben gerufen ist. Deshalb setzt er prototypisch Adam und Christus gegenüber. Adam, der (prototypische) Mensch ist dem Tod verfallen, Christus zeigt ebenso prototypisch die wahre Berufung des Menschen zum Leben an:
Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden. (1 Korinther 15,22)
Die Prototypie des Christusereignisses wird nun anschaulich in Form einer Reihenfolge ausgeführt:
Erster ist Christus; dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. (1 Korinther 15,23)
Das „dann“ (ἔπειτα/épeita) weist auf eine zeitliche Reihenfolge hin. Offensichtlich nimmt Paulus einen Gedanken auf, den er schon im 1 Thessalonicherbrief ausgeführt hat, als er auf die Sorgen der Thessalonicher, die bereits Verstorbenen könnten bei der Wiederkunft Christi verloren sein, schreibt:
Wir wollen euch über die Verstorbenen nicht in Unkenntnis lassen, damit ihr nicht trauert wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Wenn Jesus – und das ist unser Glaube – gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen. Denn dies sagen wir euch nach einem Wort des Herrn: Wir, die Lebenden, die noch übrig sind, wenn der Herr kommt, werden den Verstorbenen nichts voraushaben. Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die Posaune Gottes erschallt. Zuerst werden die in Christus Verstorbenen auferstehen; dann werden wir, die Lebenden, die noch übrig sind, zugleich mit ihnen auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen. Dann werden wir immer beim Herrn sein. Tröstet also einander mit diesen Worten! (1 Thessalonicher 4,13-18)
Der Gedanke einer Reihenfolge wirft allerdings ein Problem auf: Wo sind die Verstorbenen jetzt? Eine leiblose, unindividuelle Seele, die für die Ewigkeit geschaffen ist, ist doch nicht denkbar. Der Leib der Toten aber ist der Vergänglichkeit der Verwesung unterworfen.
Die Frage muss Paulus umgetrieben haben. Er muss um Verstehen gerungen haben. Und in diesem Ringen hat er Erkenntnis erlangt, eine Erkenntnis, die er schließlich im 2. Korintherbrief aussprechen kann, nach dem sie zur Reife gelangt ist:
Wir wissen: Wenn unser irdisches Zelt abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnung von Gott, ein nicht von Menschenhand errichtetes ewiges Haus im Himmel. Im gegenwärtigen Zustand seufzen wir und sehnen uns danach, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden. So bekleidet, werden wir nicht nackt erscheinen. Solange wir nämlich in diesem Zelt leben, seufzen wir unter schwerem Druck, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit so das Sterbliche vom Leben verschlungen werde. (2 Korinther 5,1-4)
Paulus erkennt, dass die Auferstehung im Tode selbst erfolgt. Der Übertritt vom irdisch-vergänglichen ins himmlisch-ewige, das heißt: unvergängliche Sein geschieht im Moment des Todes. Und dieser Moment wird auch der Begegnung mit dem auferstandenen Christus sein, der als Richter die letzte Gerechtigkeit aufrichten wird:
Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat. (2 Korinther 5,10)
Wer Christus als König der Welt verehrt, der muss sich verändern. Die Wahrheit dieses Königs kann man nicht besitzen, man kann sie nicht auswendig lernen, man muss sie leben. Dieser König mutet seinen Untertan einiges zu, denn Tun und Nichttun werden abgewogen:
Was ihr für einen dieser Geringsten getan und was ihr nicht getan habt, habt ihr mir getan und nicht getan. (nach Matthäus 25,40.45)
Diese Rechenschaft ist vor dem Richterstuhl Christi abzulegen. Es wird nicht nach Katechismussätzen gefragt werden, sondern nach einem Leben aus der Haltung der Barmherzigkeit. Eine Lehre, die nicht als barmherzig erfahren wird, führt auf den falschen Weg. Und eine Lehre, die nur mit eigenartigen Winkelzügen den Geruch der Barmherzigkeit vortäuscht, übertüncht doch nur die Verwesung, von der sie längst befallen ist.
Christus, der König, ist den Weg des Lebens gegangen. Er, der Hirte, sucht das Verlorene. Er urteilt nicht, er schafft Gerechtigkeit. Gibt es einen Grund, ihm darin nicht zu folgen?
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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